Die kurlige Luxusvilla mitten im Hochgebirge

    Vor 40 Jahren machte Pro Natura die Villa Cassel zum Zentrum Aletsch

    Mitten in der grandiosen Alpenlandschaft rund um den Aletschgletscher und das Naturschutzgebiet des Aletschwalds liegt die seltsam anmutende Villa Cassel. Sie dient Pro Natura als Informationszentrum und Ausstellungsort, als Ausgangspunkt für Exkursionen ins UNESCO-Welterbe Jungfrau-Aletsch sowie als Unterkunft für Seminare und Lager. 

    (Bilder: Hervé Dubois) Die Villa Cassel auf der der Riederfurka.

    Wenn sich Wanderer auf dem Weg von der Riederalp Richtung Aletschgletscher befinden und unterhalb der Riederfurka plötzlich die Villa Cassel entdecken, bleibt ihnen die Spucke weg. Nahe des längsten Eisstroms der Alpen, am Rande eines atemberaubenden Schutzgebiets von Pro Natura, wo Rotwild, Murmeltiere und uralte Bäume im schönsten Arven-, Fichten- und Lärchenwald des Alpenraums zu bewundern sind, steht eine Luxusvilla im viktorianischen Stil. Das Herrschaftshaus mit seinen kurligen Formen steht einfach da, mitten im alpinen Hochgebirge auf 2065 m.ü.M.. Schon vor 80 Jahren sagte der damalige Pfarrer vom benachbarten Ried-Mörel, Ignaz Seiler, beim Betrachten der mondänen Villa, dass sie so gut in die Landschaft passe wie ein Fünfliber auf einen Kuhfladen.

    Die bewegte Geschichte der Villa Cassel ist zugleich spannend und sehr eigen. Sie trägt den Namen ihres Bauherrn, dem steinreichen englischen Bankier Ernest Cassel (1852-1921). Der in Köln als Sohn jüdischer Eltern geborene Cassel war in England ein sehr einflussreicher Mann und pflegte enge Kontakte zur britischen Krone, der englischen Finanzwelt und der Politik.

    Der Leibarzt wollte es so
    Als Sir Cassel 1895 erkrankte, verschrieb ihm William Broadbent, Leibarzt von Königin Victoria, Ruhe und frische Alpenluft als Therapie. Er empfahl ihm das Hotel Riederfurka im Aletschgebiet, das er als Liebhaber dieser Alpenregion kannte. Die Herberge war sehr rudimentär eingerichtet: Einfache Schlafkammern, düstere Gaststube mit langen Holztischen und teils Lehmboden. Zudem war der Zugang zum Hotel äusserst beschwerlich.

    Dieses Foto von Ernest Cassel hängt in der Villa

    Sir Cassel durchquerte halb Europa mit einer Armada von Mitarbeitern und Bediensteten sowie massenhaft Gepäck mit dem Zug bis nach Brig. Dort wurde auf Pferdekutschen umgestiegen. Der Weg bis Mörel war 1895 eine sehr holprige Angelegenheit. Dort angelangt, war er zu seinem Erstaunen noch gar nicht am Ziel angelangt. Von Mörel aus ging es auf den Rücken von Maultieren und Eseln stundenlang den Berg hinauf über die Riederalp bis zur Riederfurka. Cassel und seine Begleitung, die sich Paläste und Schlösser als Unterkunft gewohnt waren, staunten nicht schlecht, als sie das bescheidene Hotel abschätzig betrachteten.

    Der steinreiche Engländer wollte sofort wieder abreisen. Sein Arzt bestand aber per Telegramm darauf, dass er auf der Alp bleibt. Erstaunlicherweise folgte Cassel diesem Rat und widmete sich der Entdeckung des Aletschgebiets. Und siehe da: Er liess sich von der Landschaft faszinieren. So entschied er, auf der Riederfurka ein «anständiges Haus» als Sommerresidenz bauen zu lassen. Das Bauland erhielt er übrigens von den Bauern von Ried-Mörel und Betten geschenkt, weil er sich zuvor mit grosszügigen Spenden bei den armseligen Berggemeinden beliebt gemacht hatte.

    Ein Klavier auf der Alp
    Das für den Bau benötigte Steingut und das Holz waren sozusagen vor der Tür vorhanden. Alles Übrige musste hingegen von Mörel auf die 1’200 Meter höher gelegene Riederfurka geschleppt werden. Die Bauern hatten einen interessanten Nebenverdienst gefunden: Pro Sack Zement gab es zwei Franken zu verdienen. Die Transportarbeit war aber zermürbend. Nebst dem Baumaterial, dem ganzen Mobiliar und Kücheninstallationen, mussten auch noch Badewannen und standesgemäss sogar ein Klavier den Berg hinauf getragen werden!

    Im August 1902 war die 25 Zimmer umfassende Luxusvilla fertiggestellt. Die prächtigen Parkettböden, Stukkaturdecken, Stofftapeten sowie der hochwertige Hausrat liessen keine offenen Wünsche übrig. Jeden Sommer empfing Sir Cassel in seiner Villa Vertreter aus Adel, Politik und Hochfinanz. Dazu gehörte auch der spätere britische Kriegs- und Nachkriegs-Premierminister Winston Churchill. Bekanntlich hatte dieser keinen einfachen Charakter und stritt sich laufend mit seinen Zeitgenossen. So auch auf der Riederalp. Er schnauzte die Bauern an, da er den von den Kuhglocken ausgehenden Lärm als unerträglich empfand. Die Hirten hatten für Churchills Anschnauzer zunächst kein Gehör. Um den Streit zu beenden, schmierte Cassel die Hirten, damit sie die Glocken mit Heu verstopften.

    Plötzlich entdeckt man ein Gebäude, das überhaupt nicht ins Hochgebirge passt.

    Das Ende der Idylle
    Im Sommer 1914 war Sir Cassel letztmals auf der ihm lieb gewordenen Riederfurka. Der erste Weltkrieg bereitete der Idylle ein jähes Ende. Als deutschstämmiger Brite war das Leben in England für ihn schwierig geworden. Kurz darauf starben seine Frau und seine noch junge Tochter. Er zog sich aus dem mondänen Leben zurück und starb im September 1921 ziemlich einsam.

    Seine Enkelin, Lady Mountbatten (Ehefrau des letzten Vizekönigs von Indien), erbte die Villa. Ihr Interesse hielt sich aber in Grenzen. Sie verkaufte das Haus der Hoteliersfamilie Cathrein. Es wurde zu einem Hotel umgebaut und bis 1969 als solches mit mehr und zuletzt vor allem weniger Erfolg betrieben.

    Als der Abriss bereits geplant war, entschloss sich Pro Natura (damals: Schweizer Bund für Naturschutz) zum Kauf und zu einer gründlichen Renovierung in Millionenhöhe. Im Sommer 1976 wurde die Villa Cassel neu eröffnet und dient seit nun 40 Jahren den Aufgaben des Naturschutzes in diesem grandiosen Gebiet von Jungfrau, Aletschgletscher und Aletschwald.

    Hervé Dubois

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